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Spurensuche im Böhmerwald 2021

Veröffentlicht am 23.10.2021 in Allgemein

Roman Hajník (li.) informierte die Besucher aus Bayern zu den laufenden Parlamentswahlen.

 

Tschechien vor der Wahl

Spannung vor den ersten Zwischenergebnissen

 

In Tschechien wurde am 08. und 09. Oktober das neue Parlament gewählt. So fand die Spurensuche 2021 gerade in der heißen Abstimmungsphase statt und die Anspannung zumindest bei unserem Fremdenführer Roman Hajník war offensichtlich. So war es nur logisch, dass die Gruppe sich am Freitag-Abend im Hotel Stern aus erster Hand über die Vorbedingungen und die ersten Zwischenergebnisse informieren lies – zumal das Schicksal der tschechischen Sozialdemokraten niemanden kalt lies.

Der amtierende Ministerpräsident, Andrej Babiš (67, ANO), ist ein tschechischer Unternehmer und Politiker slowakischer Herkunft. Seit dem 13. Dezember 2017 ist er Ministerpräsident und laut dem Nachrichtenmagazin Týden mit 4 bis 5 Mrd. Euro der zweitreichste Bürger des Landes und Gründer der Holdinggesellschaft Agrofert. Unter seiner Leitung entwickelte sich der Konzern zu einem der größten des Landes. Dazu gehören rund 250 international agierende Unternehmen. Heute ist Babiš mehrfacher Milliardär und besitzt mit "Mafra" auch das größte Medienhaus Tschechiens.

2011 gründete er die Protest-Partei "ANO", die "Aktion unzufriedener Bürger". Wählerstimmen gewann die Partei mit Babiš an der Spitze vor allem, weil sie wirtschaftlichen Aufschwung und ein Ende der Korruptionsskandale versprach. Interessenkonflikte aufgrund seiner Doppelfunktion als Minister, sowie Unternehmer und Medienmogul waren aber seit Beginn seiner Amtszeit Thema. Im Mai 2017 musste Babiš als Finanzminister zurücktreten. Man warf ihm Steuerhinterziehung und Beeinflussung der Medien vor. Trotz allem gewann ANO die Abgeordnetenhauswahl im Oktober 2017 deutlich – Babiš wurde Ministerpräsident und genoss Immunität.

Auch die EU-Antikorruptionsbehörde OLAF ermittelt gegen ihn. Im Mittelpunkt des Aufruhrs steht ein Wellness-Resort vor den Toren Prags. Das sogenannte "Storchennest" wurde mit EU-Subventionen für kleine und mittlere Unternehmen gebaut. Doch hinter dem Storchennest stehe keine mittelständische Firma, sondern Babiš' Konzern Agrofert, so der Vorwurf. Auch seine Geschäfte mit Briefkastenfirmen, wie sie durch die Pandora-Papers bekannt wurden, bringen ihn ins Visier der Fahnder.

Für Babiš geht es um Alles!

Knapp 30 Prozent der Tschechinnen und Tschechen werden Umfrageergebnissen zufolge für die ANO stimmen. Die Regierungsbildung für den umstrittenen Ministerpräsidenten dürfte sich aber schwierig gestalten. Seine beiden Koalitionspartner die CSSD (Sozialdemokraten) und die Kommunisten schwächeln und drohen unter die 5 Prozenthürde zu fallen. Das Mitte-rechts-Bündnis Spolu (Gemeinsam) und das Bündnis Piraten/Bürgermeister wollen Babiš auf jeden Fall absetzen und haben eine Zusammenarbeit mit ihm schon im Vorfeld abgelehnt.

Als Abgeordneter genießt er zwar weiter Immunität – doch die Staatsanwaltschaft wird versuchen, diese aufheben zu lassen. Sollte er die Wahl verlieren wird es für ihn knapp.

Die Sozialdemokraten (ČSSD), die bis 2017 den Regierungschef gestellt hatten, erlebten laut Zwischenergebnis ein Debakel. Sie stürzen auf unter 5 Prozent ab (2013: 20,5 Prozent, 2017: 7,5 Prozent). Auch die Kommunisten verloren deutlich.

Die ČSSD, die für ihr gemeinsames Regieren mit Andrej Babiš, ihren Opportunismus und innere Uneinigkeit abgestraft wurde, muss sich nun zunächst mit sich selbst beschäftigen und die Ursachen dieses Ergebnisses gründlich und ehrlich aufarbeiten, erklärte Roman Hajník den deutschen Gästen. Es bleibe zu hoffen, dass sie damit Erfolg habe, denn die Rückkehr einer erneuerten demokratischen Linken auf die tschechische politische Bühne sei überaus wünschenswert und notwendig: „Die tatsächlichen Interessen der real schlechter gestellten oder vom Abstieg bedrohten Menschen wird sonst niemand ehrlich vertreten, auch wenn Babišs ANO und die Rechtspopulisten vermutlich alles darauf setzen werden, sich mit populistischen Scheinargumenten als Verbündete dieser Menschen zu stilisieren“!

Bildung von Wahlkoalitionen

Eine Besonderheit des tschechischen Wahlrechts: Um ihre Chancen bei den Wahlen zu erhöhen bildeten mehrere im Parlament vertretene Parteien Wahlkoalitionen, um mit einer gemeinsamen Liste anzutreten.

Im November 2020 schlossen sich zunächst ODS, TOP 09 und KDU-ČSL zur Wahlkoalition SPOLU („gemeinsam“) zusammen. Im Dezember 2020 folgte die Bildung einer gemeinsamen Wahlallianz durch die Piratenpartei und die Partei STAN mit dem Namen Piráti a Starostové (PaS), „Piraten und Bürgermeister“.

Die Svoboda a přímá demokracie (SPD, deutsch Freiheit und direkte Demokratie) ist eine rechtsextreme Partei in Tschechien. Sie wurde am 5. Mai 2015 von Tomio Okamura gegründet und ist bisher im Parlament isoliert. Ihr Stimmenanteil dürfte bei rund 10 Prozent liegen.

Das kleinere Übel

Für viele TschechInnen wäre der Sieg der Oppositionsparteien gegen den Großunternehmer und amtierenden Premierminister Andrej Babiš ein Grund zum Feiern. Tschechien würde damit dem Modell Orbán den Rücken und in den Schoß der EU zurückkehren, so die Einschätzung von Roman Hajník. Die parlamentarische Mehrheit gegen den Populisten, dessen Partei ANO oft kritisch als „politische Abteilung seines Konzerns“ bezeichnet wird, wäre zweifellos ein Grund zum Feiern. Strukturen des Babiš-Konzerns könnten nicht weiter ungehindert in den Staat hineinwachsen

Einen üblen Beigeschmack hat das am Sonntag-Mittag ersichtliche Ergebnis aber doch: Liberale, linke und grüne Stimmen sind im neuen Parlament kaum vertreten und vor allem in den Klimafragen ist wenig Fortschritt zu erwarten.

Erleichterung am Sonntag

Nach einer langen Nacht und dem Zittern bis zur Auszählung der letzten Stimmzettel – gab es schließlich doch Grund zum Jubel. Mit 27,8 Prozent und einem hauchdünnen Abstand von etwa 30.000 Wählerstimmen lag das konservative Dreiparteien-Bündnis SPOLU vor der Babiš-Partei ANO (27,1 %). Deutlich abgeschlagen gegenüber früheren Umfragewerten, aber immerhin mit knappen 16 Prozent, folgte das liberale Bündnis der Piratenpartei mit den Bürgermeistern und Unabhängigen (PirStan). Die rechtspopulistische Freiheit und direkte Demokratie (SPD) blieb knapp unter 10 Prozent und somit unter den eigenen Erwartungen wie den Befürchtungen vieler anderer. Die Sozialdemokraten (ČSSD), die Kommunistische Partei (KSČM) sowie mehrere kleine Rechtsaußenparteien scheiterten an der 5-Prozent-Hürde. Das gleiche Schicksal traf auch die tschechischen Grünen (1 %).

Sie müssen nun darüber nachdenken, warum sie bei den Parlamentswahlen mehrmals in Folge nur etwa ein Prozent der tschechischen WählerInnen überzeugen konnten. Diesmal mag einer der Hauptgründe darin zu suchen sein, dass junge, urbane und progressiv denkende TschechInnen eher die Piratenpartei wählten, die den Grünen programmatisch am Nächsten steht und viel größere Erfolgschancen hatte. Der Aufstieg der Piraten zeigt andererseits, dass in Tschechien auch viel Potenzial für eine Partei wie die Grünen da ist: vorausgesetzt, sie finden eine Sprache, mit der sie Menschen außerhalb ihrer Kernwählerschaft ansprechen und es schaffen, breitere gesellschaftliche Allianzen zu schmieden. Klimaschutz steht in der Priorität politischer Themen in Tschechien noch etwas weiter hinten – daran kann sich aber in den nächsten vier Jahren noch einiges ändern.

Beim Jahresseminar der Seliger-Gemeinde vom 15.-17. Oktober 2021 wurde im „Forum Bad Alexandersbad“ das Wahlergebnis analysiert und im Gespräch zwischen Libor Rouček und dem neugewählten Bundestagsabgeordneten Jörg Nürnberger bewertet.

Den Bericht dazu finden Sie hier!

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