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Jahresseminar 2022

Veröffentlicht am 07.11.2022 in Allgemein

Ulrich Miksch moderiert im Format „Lorem ipsum“ die Erzählung über eine sozialdemokratische Familie in Aussig, die Vertreibung, die Ausnahmen für Antifaschisten und das Ankommen in der neuen Heimat.

 

Bei uns war‘s anders

Josef Ullrich erinnert in seinem Büchlein „Bei uns war´s anders“ an das Kriegsende im Sudetenland, die Flucht und Integration in Frankfurt am Main.

„In meiner Familie gab es keine Nazis. Widerstand wurde geleistet, wo er möglich war. Auch unsere Ausreise respektive Vertreibung aus der damaligen Tschechoslowakei verlief anders als bei den meisten Sudetendeutschen. Uns blieb der Transport in Viehwaggons mit 40 Kilo Handgepäck und die Massenunterkünfte in Flüchtlingslagern, wie es viele erleben mussten, erspart“.

1989 - kurz nachdem sein Vater gestorben war - packte Josef Ullrich das Verlangen, zurück zu den Wurzeln, wie es so schön heißt. Er fuhr mehrmals in die Tschechoslowakei, nach Prag und Aussig. Mit dem Vater und der Tante Anna war er 1964, es war das erste Mal nach der Vertreibung, dass die Sudetendeutschen wieder einreisen durften, doch berührt hatte es ihn damals nicht sonderlich. Nun aber weckten die imposante Burg Schreckenstein, das Thermalbad und die Siedlung, in der er mit meinen Eltern gewohnt hatte, viele schöne Erinnerungen.

Doch auch Erinnerungen an das chaotische Kriegsende, als die Wehrmacht auf der Flucht vor den Russen war und die Tschechen kamen, brachen hervor. Besonders der Grenzübergang bei Asch ist in lebendiger Erinnerung geblieben. Hier auf einer Wiese, über die die Familie damals nachts von dem tschechischen Grenzbeamten in den Westen geschickt worden waren und wo sie der bayerische Kollege zu ihrem Erstaunen erwartet hatte. Eine nicht alltägliche Vertriebenengeschichte – Josef Ullrich erzählt wie es dazu kam. Sein Großvater und seinen Onkel waren aktive Sozialdemokraten, deswegen wurden sie auch1938 von den Nazis, den Henlein-Leuten inhaftiert. Der Großvater war Betriebsrat bei den Schichtwerken und Beisitzer beim Arbeitsgericht. Er wurde nach der Besetzung des Sudetenlandes durch die deutsche Wehrmacht auch fristlos entlassen und musste sein Werkshaus ersatzlos räumen. Arbeitslosenunterstützung erhielt er keine während des ganzen Krieges. Er musste von Sozialhilfe leben.

Gerade mal sechs Wochen war Josef Ullrich alt, als sein Vater von den Nazis verhaftet und in ein Lager gesteckt wurde. Gleichzeitig wurde ihm aus politischen Gründen bei den Schicht-Werken als Schlosser gekündigt. Rote wollte man jetzt nicht in einem nationalsozialistischen Musterbetrieb, zu dem die Schichtwerke gemacht wurden. Solche Leute mussten jetzt zum Deutschtum umerzogen werden. Zwei Männer holten ihn zu Hause ab und fuhren mit ihm in die leerstehende Malzfabrik in Aussig; sie hätten an ihn ein paar Fragen. Die Nazis hatten dort das provisorische Konzentrationslager eingerichtet. Sein Großvater und sein Onkel waren bereits dort. Auch der populäre Aussiger Bürgermeister Leopold Pölzl, wurde dort eingeliefert und kahlgeschoren. Als Kandidaten der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei für die bevorstehenden Schreckensteiner Gemeinderatswahlen waren sie zu unzuverlässigen Personen geworden und kamen deshalb in Schutzhaft. Außerdem waren sie Mitglieder der Republikanischen Wehr, der Kampforganisation der Partei. Eine Ungewissheit im Lager bestand immer. Einige Male hieß es: Bereithalten zum Abtransport mit Waggons nach Dachau, was dann aber wieder abgeblasen wurde. Insgesamt acht Wochen dauerte die Haft. Das Lager wurde danach aufgelöst. Bei einem Flüchtlingstreffen nach dem Krieg traf sein Großvater auf einen seiner Peiniger. Dieser begrüßte ihn so als ob sie immer gute Freunde gewesen wären. 1951 bekam der Vater 150 DM Haftentschädigung vom Land Hessen für seine einmonatige Inhaftierung 1938.

Josef Ullrich erzählte über das Spazierstockgewehr, dass die Nazis bei seinem Vater zu Hause suchten – aber nicht fanden. Er hatte sich als junger Mann in einen Spazierstock einen Gewehrlauf eingebaut. Dieses Stockgewehr war mit einem normalen Gewehr kaum vergleichbar. Der Vater sagte habe auch nie damit geschossen, da er nicht mal eine Patrone dafür hatte. Er wusste daher auch gar nicht, ob es überhaupt funktioniert hätte. „Lange Zeit stand es in unserem Kleiderschrank; es hatte sogar die Aussiedlung mitgemacht“, so Ullrich.

Zum Glück fand sein Vater bei der Firma Fritz Schulz in Aussig, sofort wieder Arbeit. Er arbeitete dort bis 1947 als Meister der Stanzerei. Die Firma stellte hauptsächlich Blechdosen her und ab 1944 Teile für Panzerfäuste für die SS. Er entging durch Vortäuschung einer psychischen Krankheit der Einberufung, außerdem war er als Werkzeugmacher in einem Rüstungsbetrieb unabkömmlich gestellt. Der tschechische Betriebsrat, bestätigte ihm 1945 die anständige Behandlung von zwangsverpflichteten Tschechen und französischen Kriegsgefangenen während des Krieges und seine antinazistische Einstellung. Die aktive Mitgliedschaft in der Widerstandsgruppe, das Feindsender hören und seine verdeckte Sabotage in der Rüstungsindustrie waren ein äußerst hohes Risiko für die gesamte Familie. Das wichtige Dokument lag lange - weil tschechisch - unbeachtet bei den Unterlagen des Vaters. Die Bedeutung dieses Schreibens muss man im Kontext der antideutschen, von Hass erfüllten, Stimmung damals sehen. Den Hass brach sich im Massaker von Aussig Bahn. Der Vater blieb unbehelligt, denn die tschechische Firmenleitung von Bedřich Schulz hatte ihre deutschen Arbeiter gewarnt, durch Aussig zu fahren, denn es würden Schlägertrupps in der Stadt wüten.

Durch die dargestellten Umstände war die Familie von der Vertreibung zunächst verschont geblieben. Was für einen anderen Verlauf hätte sein Leben doch nehmen können, fragt sich Josef Ullrich! Erst heute sei ihm das so richtig bewusst geworden. Seine Kindheit verlief trotz Kriegszeit unbeschwert. Als Einzelkind wurde er von seiner Mutter behütet und verwöhnt. Die Wohnverhältnisse waren für heutige Verhältnisse sehr beengt und primitiv: Küche und Schlafzimmer mit Kammer im ersten Stock, schräge Wände, die oft feucht waren, das Plumpsklo mit Sickergrube hinterm Haus mit den Hausherren zusammen. Zwei Beete gab es im Garten und einen Kaninchenstall. Mit dem Vater ging Josef oft Pilze sammeln. Mit der Mutter sammelte er im Wald Holz oder suchte Schlüssel- und Buschblumen. Entlang der Eisenbahnstrecke lasen wir verlorene Kohlenstücke auf. Zur Erntezeit sammelten sie auf den Stoppelfeldern Ähren, Kartoffeln und Fallobst.

An Ostern 1943, so erinnerte sich Josef Ullrich, zogen die Jungen in der Siedlung mit Osterruten, das waren geflochtene Weidenruten mit Schleifen geschmückt, von Haus zu Haus und wünschten Frohe Ostern. Dafür gab es Ostereier. Davor, am Karfreitag, liefen sie mit Schnarren durch die Straßen.

Die Winter waren strenger als heute. An den Fenstern bildeten sich Eisblumen und Josef bekam jeden Abend einen erhitzten Ziegelstein eingewickelt ins kalte Bett. Die Elbe fror immer zu, so dass man ans andere Ufer gehen konnten. Im Frühjahr, wenn das Eis schmolz und der Eisbrecher gefahren war, schoben sich die Eisplatten an der Staustufe zu bizarren Gebilden zusammen. Schnee gab es genug zum Rodeln und Ski laufen. Die Weihnachtsfeste waren natürlich sehr bescheiden im Vergleich zu heute, trotzdem erinnert er sich noch gern an sie. Die Geschenke lagen dann unterm Bäumchen und danach gab es Herings- oder Kartoffelsalat mit Knacker und zu trinken Tee mit Milch und Zucker.

Wäre Josef 1938 nicht zur Welt gekommen, wären seine Eltern vielleicht vor den Nazis geflohen und nach Schweden ausgewandert, wie viele andere Sozialdemokraten, so erzählte es seine Mutter. Von Schweden wurde in der Familie viel gesprochen.

Das Kriegsende bei uns

Über die tatsächliche Kriegslage und das nahende Ende wusste der Vater Bescheid, da er täglich die deutschsprachigen Nachrichtensendungen der BBC London hörte. Vom unmittelbaren Kriegsgeschehen bekamen das Sudetenland erst 1944 einiges mit. Bis auf die Luftangriffe der Alliierten gab es in Böhmen bis zum Schluss keine größeren Kampfhandlungen. Schreckenstein mit den Schicht-Werken und Aussig als Eisenbahnknotenpunkt wurden mehrmals bombardiert. Der schwerste Angriff war im April 1945 mit 550 Toten. Seitdem steht der Turm der Stadtkirche schief. Die beiden Elbebrücken, die Angriffsziele waren, blieben unversehrt.

Die Bombardierungen der Stadt Aussig und dem Stadtteil Krammel erlebt Josef hinter der Burg in sicherer Lage. Bei Angriffen sah er das Ausklinken der Bomben. Sein Cousin Dietmar überlebte unverletzt bei seiner Großmutter einen Volltreffer im Keller ihres Hauses auf der Krammel. Beide wurden nach zwei Tagen aus den Trümmern befreit. Einen Bombenangriff erlebte er mit seiner Mutter im Aussiger Marienberg-Bunker. Dicht gedrängt saßen sie im Luftschutzraum bei flackerndem Licht und hörten ein entferntes Rumpeln. Auch die Angriffe auf das 60 Kilometer entfernte Dresden Februar 1945 bekamen sie mit; denn über ihnen flogen pausenlos die Bomberverbände der Amerikaner und Engländer. Das Motorengedröhn über ihnen war die ganze Nacht zu hören. Der Feuerschein der brennenden Stadt war am nächtlichen Himmel deutlich zu sehen. Angriffsziele waren auch die Braunkohlengruben bei Brüx und Dux, die Hermann-Göring-Werke in Oberleutensdorf und Teplitz-Schönau. Um eine Uniform kam der Vater trotzdem nicht herum. Dienst musste er bei der Feuerwehr tun. Sein Einsatz nach Feierabend war oft im Aussiger Stadttheater. Zum Volkssturm wurde er in den letzten Tagen herangezogen und baute Panzersperren. Zum Arbeitseinsatz oder zur Schulung marschierte der Volkssturm aus der Siedlung in Formation. Der gehbehinderte Kögler als letzter Mann hinkend hinterher. Symptomatisch für Hitlers letztem Aufgebot!

Josef Ullrich erinnerte sich, dass zu Hause häufig die Namen Anton Spiegel und Wenzel Jaksch fielen. Anton Spiegel war Redakteur und Vorsitzender der Schreckensteiner Sozialdemokraten. Nach dem Krieg lernte er ihn bei seinem Onkel kennen. Mit ihm bestand während des Krieges brieflicher Kontakt. So erfuhr man auch, was die Genossen um Wenzel Jaksch, dem letzten Vorsitzenden der sudetendeutschen Sozialdemokraten, im Londoner Exil machten.

In den letzten Kriegstagen erfuhr man in Aussig, dass Goebbels in Berlin seine sechs Kinder vergiftet und dann sich und seine Frau umgebracht hatte. Kurz zuvor meldete der Großdeutsche Rundfunk, dass der Führer Adolf Hitler bis zum letzten Atemzug im Kampf gegen den Bolschewismus kämpfend für Deutschland gefallen ist. In Wirklichkeit hatte er sich erschossen. Das missglückte Attentat am 20. Juli 1944 auf Hitler durch Stauffenberg war in unserer Familie eine einzige Enttäuschung.

 Gegen Ende des Krieges bildete sich in Schrecken-stein eine Widerstandsgruppe aus Sozialdemokraten, die die geplante Sprengung der Staustufe durch die Wehrmacht verhinderte. Hitler hatte zuletzt den sogenannten "Nero-Befehl" erlassen, alles beim Rückzug zu zerstören und nur verbrannte Erde zu hinterlassen. Ullrichs Onkel Karl Sacher war wie so oft der Leiter der Gruppe. Auch sein Vater gehörte dazu und war Abschnittsleiter. Auch zwei Tschechen aus der Siedlung gehörten zur zehnköpfigen Gruppe. Der im Kraftwerk beschäftigte Georg Müller hatte die Zündkabel zu den Sprengkammern unbeobachtet durchgetrennt. Der Rückzug der Wehrmacht erfolgte jedoch zu überstürzt. Noch unter den Augen des Kommandanten warfen zwei Beschäftigte die Sprengladungen in die Elbe. Man befürchtete, dass die abziehende Wache mit einer Panzerfaust die Sprengung auslösen könnte. Alles ist in einem Protokoll festgehalten, amtlich bestätigt vom Nationalausschuss Usti nad Labem. Einiges von den Besprechungen, die in der Wohnung stattfanden, bekam auch der kleine Josef mit. Er hatte das Glück, wie er viel später merkte, in einer nicht üblichen deutschen Familie aufzuwachsen.

In den letzten Kriegstagen folgte der panische Rückzug von Wehrmacht und SS, der Durchmarsch der Roten Armee und schließlich die tschechischen Milizen. Der Stadtkommandant Rudolf Schittenhelm beging mit seiner Familie Suizid und entzog sich der Verantwortung wie viele Nazigrößen; ebenso der Schreckensteiner Volkssturmführer und Schleusenleiter Werner Osterheld aus Angst vor der Zukunft. Der Vater erzählte später ausführlich auf einer Tonkassette von einem schon abenteuerlich klingenden Vorfall: Ein gewisser Kern, ein kämpferischer älterer Sozi aus Schreckenstein (Rentner), stellte sich am 9. Mai einer Gruppe älterer SS-Leuten entgegen und forderte sie auf, ihre Waffen abzulegen, der Krieg sei ja jetzt zu Ende. Und es geschah Unglaubliches: nämlich nichts - sie schoben ihn beiseite und gingen einfach weiter. Dreistigkeit, Naivität oder Leichtsinn? Es hätte ins Auge gehen können, denn es gab noch fanatische SS-Leute, die in ihrer panischen Fahrt durch Aussig auf Fenster mit weißen Fahnen schossen.

Für Ullrichs Familie war die Befreiung von der Nazizeit gleich zu Anfang enttäuschend. Dabei war das ersehnte Kriegsende mit so vielen Hoffnungen verbunden. Alles würde wieder so werden wie vor 1938. Mit der roten Fahne zur Begrüßung standen die Sozis am Straßenrand, Onkel Sacher vorneweg, doch die Russen nahmen kaum Notiz von ihnen. Sogleich gingen die alten Schreckensteiner Sozis an den demokratischen Wiederaufbau der Gemeindevertretung. Sie suchten den Kontakt zu den tschechischen Genossen. Doch es kam anders: Die alten tschechischen Genossen von früher waren an einer Zusammenarbeit nicht interessiert, obwohl im Nationalkomitee in den ersten Tagen nach Kriegsende, das die Stadt den Russen übergab, deutsche Antifaschisten vertreten waren. Der Onkel wurde nicht mehr bei der Krankenkasse angestellt, wo er 1938 von den Nazis entlassen worden war. Das war auch der Grund, dass er schon 1946 aussiedelte. Es half dem Vater nicht viel, dass er als Antifaschist anerkannt war; denn Tschechisch konnte auch er nicht. So musste er auch eine weiße Armbinde mit einem N für Nĕmci, Deutsche, tragen, wie alle Deutschen. Die deutschen Antifaschisten trugen zur Unterscheidung noch eine rote Armbinde.

Ausreise 1948

Die Familie Ullrich hätte wegen ihrer Anerkennung als Antifaschisten in der Tschechoslowakei bleiben können. In den Beneš-Dekreten waren sie zunächst von der Vertreibung ausgenommen. 1948 wurde jedoch dem Vater dieser Status wieder aberkannt; dagegen hätte er Einspruch erheben können. So kam auch für die Ullrichs die Einsicht, dass es für die verbliebenen Deutschen keine Perspektiven in der neuen Tschechoslowakei gab und sie doch unerwünscht waren. 1948 war es auch für sie soweit. Der Vater meldete sie für den nächsten Aussiedlertransport an, nachdem sie die Einreiseerlaubnis für Bayern zugesandt bekommen hatten. Sie waren also die Letzten. Der Großvater dachte lange, dass dieses Unrecht der Vertreibung nicht bleiben könne und alle wieder zurückkommen würden. Als der Großvater dann doch merkte, so wie vor 1938 würde es nicht mehr werden, resignierte er. Dass man nun auf allen Ämtern tschechisch sprechen musste, gab ihm noch den Rest und schließlich im Februar 1948 der kommunistische Umsturz auf der Prager Burg. Die Tschechoslowakei wurde ein Satellitenstaat Moskaus unter dem Präsidenten Klement Gottwald.

Als die Formalitäten für ihre Ausreise abgewickelt waren, musste der Vater dies bei seiner Arbeitsstelle verheimlichen, da er praktisch unabkömmlich war. Er reichte daher einfach seinen Urlaub ein. Wie alle Verwandten konnten auch die Ullrichs ihre Möbel mitnehmen. Am 10. September ging es los. Die Großfamilie fuhr zusammen mit anderen mit der Bahn von Aussig nach Eger und dann mit dem LKW nach Asch (Aš). Die Möbel waren schon seit Tagen mit der Bahn unterwegs. Es war der letzte Antifatransport aus der Tschechoslowakei, nicht in Güterwagen wie die ersten Transporte. In Asch angekommen, mussten sie alle bis zur Dunkelheit im Zollhaus warten. Später, nachdem Gruppen gebildet worden waren, führte sie ein tschechischer Grenzbeamte in den Wald. An der Grenzlinie verabschiedete sich der Tscheche und schickte sie über eine große Wiese ins Ungewisse. Eine schemenhafte Gestalt trat hervor und kam auf sie zu. Es war der bayerische Grenzer, der sie freundlich begrüßte. Er war über ihr Kommen bereits informiert. Sie waren im Westen! Offensichtlich wurden hier Absprachen an den Amerikanern vorbei zwischen den tschechischen und bayerischen Behörden getroffen. Aus diesem Grund hatte man wahrscheinlich unseren Grenzübergang in den entlegensten Winkel der Tschechoslowakei gelegt, in das Länderdreieck Bayern (amerik. Zone), Sachsen (russ. Zone) und der Tschechoslowakei.

Der bayerische Grenzbeamte führte sie auf einem Trampelpfad ins deutsche Zollhaus wo sie im Treppenhaus übernachteten. Und welch eine Überraschung am Morgen: Nur ein Stück die Straße hätten sie am Abend zuvor vom tschechischen Zollhaus aus weitergehen brauchen, um nach Bayern zu kommen. So aber führte man sie in einem größeren Bogen durch den Wald. Dies gehörte eben dazu, um aus unserer Ausreise eine Flucht zu machen. Den Eltern wurde offiziell mitgeteilt, dass sie wegen illegalem Grenzübertritt wieder zurückgeschickt werden würden, da die Amerikaner keine Flüchtlinge mehr aufnähmen. Hinter vorgehaltener Hand meinte man aber, dagegen könne man sich ja wehren. Dieser Vorgang spielte sich dann auf dem Selber Amtsgericht ab. Der Großvater soll gesagt haben, lieber lassen wir uns alle erschießen, als wieder zurückzugehen. Jedenfalls blieben sie und kamen für vier Tage ins Flüchtlingslager nach Hof. Darüber will sich Josef Ullrich mit Peter Heidler noch intensiv austauschen.

Die Ullmann-Organisation

Warum ihre Ausreise so ablief, erfuhr Josef Ullrich erst heute nach 70 Jahren. Dahinter steckte die so genannte Ullmann-Organisation mit ihren beiden Büros in München und Prag. Alois Ullmann, der ehemalige Vorsitzende der Aussiger Sozialdemokraten, war einer der Initiatoren der Antifa-Transporte, zusammen mit Emil Werner. Er war von 1938 bis 1945 im KZ Dachau zusammen mit tschechischen Genossen und es entstanden freundschaftliche Verbindungen, die über den Tag hinaus anhielten. Dadurch konnte er in Prag 1945 vieles für seine alten Parteifreunde erreichen.

Tausende Kommunisten und Sozialdemokraten übersiedelten mit diesen Antifa-Transporten entweder in die amerikanische oder russische Zone. 1948 war es offiziell nicht mehr so einfach, in die Westzonen zu kommen; die waren mit Flüchtlingen und Aussiedlern überfüllt. Es wäre also nur die Ostzone in Frage gekommen. Mit Elbkähnen gingen Transporte mit überwiegend Kommunisten nach Sachsen. Zu den Russen die meine Eltern aber auf keinen Fall. Und wie weitblickend sie waren, zeigte die geschichtliche Entwicklung zur DDR. Da der Onkel Sacher in Friedberg/Hessen auf dem Wohnungsamt arbeitete, konnte er für sie eine Wohnung nachweisen. Und so landeten sie in der Friedberger Vorstadt Fauerbach, zwangseingewiesen. Formal war ihre Ausreise eine Familienzusammenführung.

2022 hatte Josef Ullrich Kontakt zur letzten noch lebenden Zeitzeugin der Aktion Ullmann, Olga Sippl, heute 102 Jahre alt, Ehrenvorsitzende der Seliger9-Gemeinde und ehem. Mitarbeiterin von Alois Ullmann; sie bestätigte ihm den Kontext ihrer für ihn lange rätselhaften Ausreise 1948. So kam Josef Ullrich zur Seliger-Gemeinde, deren Mitglied er heute auch ist.

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