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Meeting Brno 2022

Veröffentlicht am 31.07.2022 in Allgemein

Der Leiter des Meeting Brno 2022 Petr Kalousek (li.) begrüßte die Referenten Thomas Oellermann (Mitte) und Jan Budňák (2.v.re.) sowie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Spaziergangs. Die Veranstaltung wurde von zwei Dolmetscherinnen simultan übersetzt.

 

Für Freiheit und Demokratie

Ein Spaziergang auf den historischen Spuren der Sozialdemokratie in Brünn – Beitrag der Seliger-Gemeinde zum Meeting Brno 2022

Welche Orte in Brünn sind mit der Geschichte der Sozialdemokratie verbunden? Welche Schicksale erlebten Brünner Sozialdemokraten? Und welche Rolle spielt dieses historische Kapitel in den heutigen tschechisch-deutschen Beziehungen? Antworten auf diese Fragen gab zu Beginn des Meeting Brno 2022 eine thematische Führung durch Brünn unter der Leitung des Historikers Dr. Thomas Oellermann, Präsidiumsmitglied der Seliger-Gemeinde und Experte für die Geschichte der sudetendeutschen Sozialdemokratie. Unterstützt wurde er von Jan Budňák – Assistenzprofessor am Institut für Germanistik, Nordische und Niederländische Studien. Die Beiträge wurden entsprechend simultan übersetzt.

Thomas Oellermann erzählte den knapp 30 Teilnehmern zu Beginn des Spaziergangs, dass die tschechische und die sudetendeutsche Sozialdemokratie zu den wichtigsten Parteien in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit gehörten. Sie setzten sich für die Rechte und bessere Lebensbedingungen der Arbeiter ein. Anders als die Kommunisten waren die Sozialdemokraten bemüht, ihre Politik nicht durch revolutionäre Umstürze, sondern durch Reformen auf dem Boden der demokratischen Tschechoslowakei durchzusetzen.

Die Teilnehmergruppe im Treppenhaus der Milady Horákové Straße 24/26 (Foto: Ch. Krumpholz)

Deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei (DSAP) und Dr. Ludwig Czech

Die herausragende Bedeutung der Sozialdemokratie liegt jedoch vor allem darin, dass sie zu den entschiedensten Gegnern des Nationalsozialismus gehörte. Dies gilt insbesondere für die Deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei (DSAP), die trotz der ausweglosen Situation bis zum Untergang der Tschechoslowakei 1938 gegen die Nationalsozialisten und die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins kämpfte. Vielen Mitgliedern brachte es Verfolgung, Inhaftierung und Tod. Nur Wenigen gelang die Flucht in die freie Welt. Deshalb, so Oellermann, sei es immer eine Stunde wert, sich mit dieser Geschichte zu befassen.

Thomas Oellermann und Jan Budňák nahmen die Teilnehmer anschließend mit auf eine Reise in die sozialdemokratische Vergangenheit Brünns. Start des Spaziergangs war an der Milady Horákove 24. Hier stellte Oellermann Dr. Ludwig Czech, eine der bekanntesten Persönlichkeit der deutschen Arbeiterbewegung während der Zwischenkriegszeit in der neu geschaffenen Tschechoslowakei, aber auch der österreichischen und europäischen Arbeiterbewegung vor. 2005 wurde eine Gedenktafel im Treppenhaus der Milady Horákové Straße 24/26 in Brünn angebracht, die die Teilnehmer besichtigen konnten. In diesem Gebäude befand sich das Kreissekretariat der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei und die Redaktion des Tagblattes 'Volksfreund'. Czech, der unter anderen auch einen Ministerposten in der Tschechoslowakischen Republik bekleidet hat, ist eine der größten Gestalten der europäischen Arbeiterbewegung gewesen. Er wurde 1942 nach Theresienstadt verschleppt, wo er kurz darauf starb.

Referent Jan Budňák zu den sozialdemokratischen Vorweldorganisationen (Foto: Ch. Krumpholz)

Die sozialdemokratische Freidenkerbewegung und Theodor Hartwig

Jan Budňák stellte auf dem Platz vor dem Janáček-Theater die vielen Vorfeld-Organisationen der sudetendeutschen Sozialdemokratie vor. Die deutsche Sozialdemokratie in der Ersten Tschechoslowakischen Republik bestand aus einem System unterschiedlicher Organisation. Neben der Partei, der DSAP, gab es Verbände für Sport, Gesang, Touristik bzw. für die Durchsetzung eines grundsätzlichen Alkoholabstinentismus. Von großer Bedeutung waren darüber hinaus die landesweit bestehenden Konsumvereine mit ihren Verkaufsstellen. Daneben gab es mitgliederstarke Gewerkschaftsverbände mit einer langen Tradition, die zurückreichte in die Anfangsjahre der Arbeiterbewegung. Zu den kleineren Gewerkschaften gehörte der Bund der Angehörigen der deutschen Theater mit Sitz in Brünn oder die sozialdemokratische Freidenkerbewegung mit der Galionsfigur Theodor Hartwig (1872 – 1958), der als Theodor Herzl in eine jüdische Wiener Familie geboren.

Der junge Mittelschullehrer Theodor Hartwig setzte sich energisch für eine Reform des k. u. k. Schulwesens ein. Er wünschte den naturwissenschaftlichen und realistischen Fächern mehr Gewicht gegenüber den überbewerteten humanistischen Fächern. Das k. u. k. Unterrichtsministerium versetzte deshalb den unbequemen Kämpfer 1910 an eine Realschule nach Brünn. Die Schulreform wurde freilich dadurch nicht verhindert. In der Tschechoslowakei wirkte Hartwig neben seinem Schulamt unermüdlich für den freien Gedanken, gegen Klerikalismus und Reaktion und für den Sozialismus. 1925 wurde er zum ersten Präsidenten der Internationale der proletarischen Freidenker gewählt; er zog sich von seinem Schulamt zurück, um sich mit seiner ganzen Kraft der Freidenkerbewegung widmen zu können. In der Hitlerzeit wurde Hartwig von der Prager Gestapo verhaftet, entkam aber dem Galgen und überlebte das NS-Regime. Er starb am 5. Februar 1958 in Brünn.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor dem Kino Scala (Foto: CH. Krumpholz)

Das Café Biber (heute Kino Scala) und Oskar Maria Graf

Weiter ging es zum ehemaligen Café Biber, wo Jan Budňák u.a. das Brünner Exil des Oskar Maria Graf thematisierte. Das Café Biber am Lažanského náměstí (heute Moravské nám.) wurde nach dem Jahre 1933 ein Zentrum der deutschen Emigranten- Künstler – allerdings erst nach seiner Übersiedlung in das Dopz-Gebäude am unteren Ende des Lažanského náměstí. In dem Gebäude, wo sich heute das Kino Scala befindet fanden zur Zeit der aufkommenden Hennleinbewegung antifaschistische Vorträge und Kundgebungen statt. Heute erinnert dort, im jetzigen Kino Scala, eine Gedenktafel an die Emigranten, die in Brünn zeitweilig Asyl fanden: „Hier, im später durch Bomben zerstörten Dopz-Gebäude und im Café Biber war der kulturelle Treffpunkt der Künstler, Schriftsteller, Publizisten und Politiker aus Deutschland und Österreich, die in den Jahren 1933-1939 in Brünn im Exil lebten.“

Die Verbannung in die Emigration war für die betroffenen Autoren mehr als nur der erzwungene Verlust der Heimat. Neben die in ihren individuellen Nuancierungen alle Exilanten betreffenden Existenzprobleme emotionaler, materieller und rechtlicher Art griff das gewaltsame Herausreißen aus dem vertrauten Sprach- und Kulturkreis die Grundlage schriftstellerischer Produktion an. Einer der bekanntesten Exilanten war sicher Oskar Maria Graf (1894-1967). Am Tag des Reichstagsbrands befindet sich Oskar Maria Graf in Wien, seine Münchener Wohnung wird von der Polizei durchsucht. Er kehrt nicht wieder nach Hause zurück. Noch in Wien verfasst er seinen berühmten Protestaufruf „Verbrennt mich“, mit dem er gegen die Bücherverbrennung vom Mai 1933 Stellung bezieht und verlangt, dass auch seine Bücher den Flammen übergeben werden. Im Frühjahr 1934 übersiedelt er mit Mirjam Sachs nach Brünn, da ihm nach der Niederschlagung des Februaraufstands der Wiener Arbeiter die Abschiebung aus Österreich droht. Am 24. März 1934 entziehen ihm die Nationalsozialisten die deutsche Staatsbürgerschaft. Fast ein Vierteljahrhundert wird Graf staatenlos bleiben. 1938 flieht er weiter nach Holland und New York.

Referent Thomas Oellermann mit den beiden Dolmetscherinnen (Foto: Ch.Krumpholz)

Verfolgung, Flucht und Exil nach 1938

Thomas Oellermann sprach an der vorletzten Station vor dem Park am Mährischen Platz über die Sudetendeutschen Sozialdemokraten im Exil. Nachdem die DSAP vielen reichsdeutschen und österreichischen Sozialdemokraten ab 1933/34 in der Tschechoslowakei Zuflucht boten, zahlten die sudetendeutschen Sozialdemokraten ab 1938 nach der Besetzung der sogenannten Sudetengebiete mit Verfolgung, Inhaftierung und Tod einen hohen Preis – im günstigeren Fall gelang die Emigration. In der internationalen Arbeiterbewegung zeigte sich ein einzigartiges Vertrauensverhältnis, und die gefährdeten Sozialdemokraten erlebten Beweise großartiger Solidarität und Menschlichkeit.

Als nach dem Münchner Abkommen deutsche Truppen am 1. Oktober 1938 mit der Besetzung des Sudetenlands begannen, konnte sich nur ein Teil der demokratischen Politiker in die Rest-Tschechoslowakei retten – unter ihnen der nun amtierende Parteivorsitzende Wenzel Jaksch durch eine spektakuläre Flucht aus der Prager Botschaft Großbritanniens. Vom Oktober bis Dezember 1938 wurden 20.000 Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei verhaftet; 2.500 Sudetendeutsche wurden allein in das KZ Dachau eingewiesen. Ins westliche Ausland flüchteten schätzungsweise 30.000 Personen nach Schweden, Finnland, Großbritannien, Kanada usw..

Gedenktafel für Guido Glück (Foto: Ch. Krumpholz)

Hugo Iltis und Guido Glück – zwei sudetendeutsche Sozialdemokraten aus Brünn

Den Schlusspunkt setzten Thomas Oellermann und Jan Budňák vor dem Gebäude der ehemaligen Volkshochschule Brünn an der Janáčkovo nám. 654 – heute gehört das Gebäude zur technischen Universität Brno. Hier sprachen sie über deren Gründer und ersten Direktor der Volkshochschule Brünn, den Sozialdemokraten Hugo Iltis. Insbesondere mit seinem bereits genannten Buch »Der Mythus von Blut und Rasse«, das sich aus wissenschaftlicher Sicht vehement gegen die nationalsozialistischen Rassentheorien und die Nürnberger Rassengesetze wandte, hatte sich Hugo Iltis als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus exponiert. Mit Unterstützung des „Emergency Committee for Displaced German Scholars“ gelang Iltis, seiner Frau und den beiden Söhnen Ende Oktober 1938 zur Emigration in die USA.

Auch Guido Glück, der deutsche Literat, Theatermacher und Antifaschist kam hier zur Sprache, da an der Fassade der ehemaligen Volkshochschule eine Gedenkplakette für ihn angebracht ist. Der bekennende Sozialdemokrat verließ nach 1933 die soziale Szene, versuchte aber gleichzeitig, Emigranten aus Nazi-Deutschland zu helfen, die sich vorübergehend in Brünn niederließen. Glücks antifaschistische Haltung rettete ihn später vor der Vertreibung der Deutschen aus Brünn. Er konnte aber nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen und geriet in Vergessenheit. Guido Glück starb dort im Jahr 1954. Eine, auch von der Seliger-Gemeinde unterstützte, Initiative von Jana Urbanovská will das verlassene Grab von Guido Glück renovieren und damit Glücks Erbe und seinen Platz im Gedächtnis des tschechischen und deutschen Volkes wiederbeleben.

Allein an diesen fünf Stationen wurde deutlich, wie eng die sudetendeutsche Sozialdemokratie in Brünn verwurzelt und wie viele namhafte Persönlichkeiten damit verbunden waren. Die Absicht der Stadt Brno/Brünn diesen Themenspaziergang in das touristische Angebot der Stadt aufzunehmen, belegt die enge Verbundenheit mit der sudetendeutschen, sozialdemokratischen Geschichte.

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